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AllgemeinOrganisationsentwicklung

Mehr Mitarbeiterverbundenheit durch einen offenen Umgang mit „Spannungen“?

By 2. Juni 2022No Comments

Die Loyalität von Menschen kann man nicht kaufen. Und sie entsteht auch nicht durch oberflächliche Einzelmaßnahmen. Ein wichtiger Faktor ist eine gesunde und sichere Beziehungskultur – das gilt im Privaten ebenso wie für Organisationen.
Diese zeigt sich weniger am Grad der Harmonie als viel mehr am Umgang mit „Spannungen“, die jeder Mensch in sich trägt.

Warum sind Spannungen für Organisationen relevant?

Spannungen können zum Beispiel Ideen, Fragen, Bedenken oder Sorgen sein. Sie entwickeln sich in uns, weil wir spüren, dass es – im ganz Kleinen ebenso wie im Großen – Potenzial oder Bedarf gibt, etwas anzupassen, zu verändern oder weiterzuentwickeln. Manchmal sind diese Veränderungen in der Organisation notwendig, wenn zum Beispiel Informationen ausgetauscht, Abläufe optimiert oder Strukturen und Prozesse angepasst werden müssen. Manchmal geht es um die Beziehung zwischen einzelnen Menschen, beispielsweise um Kommunikationsmuster, Konflikte, Unklarheiten in Bezug auf Rollen und Aufgaben. Und manchmal geht es um Entwicklungsprozesse in uns selbst.

Ein offener, konstruktiver Umgang mit Spannungen kann dazu beitragen, Probleme früher zu erkennen, Lösungen zu entwickeln und Arbeitsumfelder zu schaffen, in denen Menschen sich wohl und sicher fühlen, und in denen sie ihr Potenzial bestmöglich einbringen können und bleiben wollen.
Spannungsbasiertes Arbeiten zu einer gelebten Realität werden zu lassen, ist ein fortwährender Prozess, kein einmaliges Projekt. Die neusten Ergebnisse des Gallup Engagement Index, zeigen aber, wie dringlich und lohnenswert es ist, sich auf den Weg zu machen. Denn laut der järhlich durchgeführten, repräsentativen Studie:

  • fühlt sich immer noch eine Mehrheit der Mitarbeitenden in Deutschland (68%) nicht eng an ihr Unternehmen gebunden,
  • gaben 40% der Befragten an, innerhalb eines Jahres nicht mehr bei ihrer derzeitigen Firma beschäftigt sein zu wollen (vgl. 2018: 22%)
  • ist fast jeder zweite Mitarbeitende ohne emotionale Bindung zum Unternehmen aktiv auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz

Spannungsbasiertes Arbeiten als systemische Aufgabe

Ein konstruktiver Umgang mit Spannungen ist eine systemische Aufgabe, die alle Menschen und Ebenen einer Organisation betrifft: Haltung, Engagement und Fähigkeiten der Führung, der Teams und jedes einzelnen Mitarbeitenden.

  • Spannungen erkennen & benennen:

    Auf individueller Ebene geht es darum, Spannungen erkennen und benennen zu können. In der Regel vermeiden wir unangenehme Gefühle lieber, als sie uns genauer anzusehen, um zu verstehen, warum sie da sind und welche Bedürfnisse dahinter stecken. Häufig haben wir auch gar nicht gelernt, Gefühle zu reflektieren und auszudrücken. Gerade in Umfeldern, in denen wir uns nicht so sicher fühlen, ziehen wir uns stattdessen lieber zurück oder weichen auf Nebenschauplätze aus. Das gilt auch für Fragen oder Ideen, die wir zurückhalten aus der Unsicherheit heraus, sie könnten nicht passend sein oder ein schlechtes Licht auf uns werfen. Spannungen zu erkennen, sie zu benennen und annehmen zu können, erfordert neben der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung also auch ein gewisses Maß an Selbstkompetenz und Selbstsicherheit, die wir oftmals entwickeln müssen.

  • Spannungen erschließen:

    Auf der Interaktionsebene, also im Umgang miteinander, geht es darum, innerhalb einer Gruppe oder eines Teams mit Spannungen konstruktiv umzugehen. Dies erfordert von jedem Einzelnen eine positive Grundhaltung gegenüber Spannungen und die Fähigkeit, sie annehmen zu können. Und es geht auch darum, über sie zu sprechen, das Potenzial für Entwicklung und Veränderung, das in Spannungen steckt, zu erkennen und Wege zu finden, es zu erschließen – zum Beispiel Informationen auszutauschen, Aufgaben zu definieren oder Projekte aufzusetzen, in denen Abläufe angepasst, Strukturen verändert oder Ideen weiterentwickelt werden können.

  • Spannungen institutionalisieren:

    Die Aufgabe der Führung ist es, innerhalb der Organisation und Teams und angepasst an den Bedarf psychologisch sichere Umfelder und Räume zu schaffen, zum Beispiel Meetingformate, in denen Spannungen geteilt werden können. Und es gilt, einen Rahmen dafür zu definieren – zum Beispiel Werte, Regeln, Abläufe, Methoden – der allen Beteiligten das nötige Maß an Klarheit und Orientierung gibt, um ihre Fragen, Bedenken und Ideen einbringen und ihr Potenzial für Entwicklung und Veränderung nutzen zu können. Dazu gehört auch, Mitarbeitenden zu ermöglichen, sich in Bezug auf ihre Fähigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit Spannungen, gezielt weiterzuentwickeln – und spannungsbasiertes Arbeiten zu einer (vor-)gelebten Praxis zu machen.

Zusammengefasst: Damit das Potenzial von Spannungen in Organisationen erschlossen werden kann, braucht es Umgebungen, in denen dieses Potenzial überhaupt als solches erkannt wird. Dies beginnt bei einem gelebten Mindset, das Spannungen als Wert begreift und diesen anerkennt. Es braucht aber auch Strukturen und Prozesse innerhalb der Organisation, welche Spannungen Raum geben und sie „organisierbar“ machen. Und schließlich sind individuelle Fähigkeiten und Kompetenzen erforderlich, die es Führung und Mitarbeitenden möglich machen, Spannungen anzunehmen, mit Spannungen konstruktiv umzugehen und ihr Potenzial zu „verwerten“.

Wenn wir uns nicht sicher genug und eingeladen fühlen, unsere Sorgen oder Bedürfnisse einzubringen, wenn wir nicht das Gefühl haben, gehört zu werden und mit unseren Ideen etwas verändern zu können, dann ziehen wir uns zurück und im schlimmsten Fall bleibt nur die „Trennung“.

Agilere, flexiblere Organisationen brauchen eine neue Beziehungskultur

Inzwischen wird im Organisationskontext viel von psychologischer Sicherheit gesprochen. Immer mehr Menschen begreifen, dass sie auch für den wirtschaftlichen Erfolg (fundamental) wichtig ist. Aber sie zu entwickeln, bringt für viele Organisationen große Herausforderungen mit sich, weil sich alle auf den Weg machen müssen, damit Fortschritte erlebbar werden.
Eine sichere, gesunde Beziehungskultur entsteht dort, wo Menschen ihre Gefühle, Bedürfnisse und Spannungen konstruktiv artikulieren können, wo sie sich dazu berechtigt und sogar eingeladen fühlen und dafür gewertschätzt werden. Und letzteres nicht nur in symbolischer Form, sondern besonders dadurch, dass das Potenzial ihrer Spannungen als solches erkannt und ausgeschöpft wird. Eine solche Beziehungskultur wird für viele Organisationen darüber mitbestimmen, ob sie ausreichend entwicklungs- und anpassungsfähig ist und, ob Menschen sich längerfristig an sie binden wollen und bereit sind, sich mit ihrem vollen Potenzial einzubringen.

“When organizations are built not on implicit mechanisms of fear but on structures and practices that breed trust and responsibility, extraordinary and unexpected things start to happen.”
Frederic Laloux

Quellen:

  • Gallup Engagement Index 2021
  • Dan Radecki PHD, MA & Leonie Hull, „Psychological Saftey: The key to happy, high-performing people and teams“, Academy of Brain-based Leadership 2018
  • Klein, Sebastian, Hughes, Ben, „Der Loop Approach. Wie Du Deine Organisation von innen heraus transformierst“, Campus Verlag, 2019
  • Laloux, Frederic, „Reinventing Organizations“, Verlag Franz Vahlen 2017