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CoachingOrganisationsentwicklung

Spannungsbasiertes Arbeiten in Teams: die eigenen Spannungen erkennen & benennen

By 7. Februar 2022Juni 3rd, 2022No Comments

Jeder Mensch hat täglich Spannungen – aber was ist mit „Spannung“ eigentlich gemeint? Spannungen sind zum Beispiel Fragen, Ideen oder Bedenken, die sich IN uns entwickeln, weil wir spüren, dass es Potenzial oder Bedarf gibt, etwas anzupassen, zu verändern oder weiterzuentwickeln. Häufig gehen sie jedoch mit unangenehmen Gefühlen einher – das macht es schwer, sie überhaupt als solche zu erkennen.

Was haben Spannungen mit innerer Beobachtung zu tun?

Wir erleben Spannungen eher diffus oder sogar als unangenehme Gedanken und Gefühle. Einen großen Teil unseres Tages verbringen wir nämlich in der Regel in einem automatischen Modus. Wir reagieren spontan, mitunter impulsiv – schlussfolgern, urteilen und bewerten, passen uns an oder trotzen – ohne Bewusstheit in Bezug auf unsere Gedanken, Gefühle oder Bedürfnisse.

Das Potenzial bleibt ungenutzt, wenn wir unsere eigenen Spannungen nicht als solche erkennen können. Spannungsbasiertes Arbeiten beginnt also bei der individuellen Selbstbeobachtung.

Die innere Beobachtung ist also zunächst einmal die Fähigkeit, mit der Aufmerksamkeit nach innen zu wandern und sich der eigenen Gedanken und Gefühle bewusst zu werden. Dadurch entsteht erst die Distanz, die wir brauchen, um unsere Wahrnehmungen besser zu verstehen und einzuordnen – und dabei möglicherweise auch Spannungen zu entdecken.
Im Organisationskontext ist das eine wichtige Grundvoraussetzung, um unsere inneren Spannungen in ein konstruktives Verhalten zu übersetzen – beispielsweise in einem angemessenen Rahmen förderliche Kritik zu äußern, Problemstellungen zu formulieren, Ideen zu artikulieren oder Herausforderungen zu anzusprechen.

Wie kann man die Fähigkeit zur inneren Beobachtung entwickeln?

Die Fähigkeit zur inneren Beobachtung ist sicherleich keine Kompetenz, die über Nacht oder in einem einmaligen Training erworben werden kann. Das Erlernen der Selbstbeobachtung ist eine lebenslange Aufgabe und erfordert viel Übung. Um den Prozess zu erleichtern, gibt es hilfreiche Ansatzpunkte, Hilfestellungen und Methoden.

  • Sich der eigenen subjektiven Wahrnehmung bewusst werden

    Der erste Schritt zur inneren Beobachtung ist es, ein Bewusstsein für unsere unbewussten, subjektiven Filter zu entwickeln – Persönlichkeitsmuster, hartnäckige Überzeugungen über uns selbst und andere und abgespeicherte Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus unserer Vergangenheit und Kindheit beeinflussen, wie wir unsere Welt wahrnehmen. Viele Verfahren und Methoden aus der modernen Psychotherapie und dem Coaching, wie beispielsweise Kontextanalysen, die Transaktionsanalyse, Persönlichkeitstypisierungen aber auch anwendungsorientierte Instrumente aus der Kommunikationspsychologie können die Entdeckung und Wahrnehmung der eigenen, unbewussten Muster unterstützen.

  • Zeit gewinnen:

    Ein weiterer begünstigender Faktor, um in den Zustand der inneren Beobachtung zu gelangen, ist die Zeit. Denn unser innerer Beobachter braucht Zeit, um die „Daten“ zu verarbeiten, um sie zu interpretieren und damit einen Prozess der Erkenntnis in Gang zu bringen. Es kann also sehr hilfreich sein, sich anzugewöhnen, sich in unklaren Situationen erst einmal Zeit zu verschaffen.

  • Aufmerksamkeit nach innen lenken:

    Hat man erst einmal Zeit gewonnen, geht es darum zu lernen, die Aufmerksamkeit gezielt nach innen zu lenken, um Empfindungen, Spannungen und Gefühle bewusst wahrzunehmen und dahinter verborgenen Bedürfnissen auf die Spur zu kommen. Auch hier eignen sich viele anwendungsorientierte Methoden aus der Coaching-Praxis, wie beispielsweise angeleitete Meditationen, aber auch tägliche Routinen und Rituale, die im Alltag Räume dafür schaffen, aus dem Funktionsmodus in einen achtsameren Zustand zu wechseln.

  • Gefühle und Bedürfnisse erkennen und aussprechen:

    Ist man einmal in Kontakt mit der inneren Welt der Gedanken und Gefühle, geht es darum, sich der Vielfalt, Pluralität und auch Widersprüchlichkeit der eigenen inneren Anteile Gewahr zu werden und mit ihnen umgehen zu lernen. Hilfreiche Leitfragen können zum Beispiel sein: Welche Gefühle nehme ich gerade wahr und wo im Körper sind sie? Was brauche ich? Welche Botschaften höre ich in mir? Was ist hier wichtig?
    Eine Vielzahl anwendungsorientierter Methoden und Instrumente aus der Kommunikationspsychologie, wie beispielsweise die Arbeit mit dem Inneren Team von Schulz von Thun oder die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg tragen dazu bei, die eigene Beobachtungsgabe zu schärfen, die wahrgenommenen Empfindungen zu interpretieren und passende Worte dafür zu finden, um sie zum Beispiel konstruktiv zu artikulieren.

  • Persönliche Werte & Prinzipien erarbeiten:

    Es gibt akute Situationen, die kein Reflektieren oder Durchdenken erlauben. Genau dafür ist es wichtig, sich selbst besser verstehen und anzunehmen zu lernen, und in diesem Prozess die eigenen Werte und Prioritäten im Leben herauszuarbeiten. So kann es gelingen, Schritt für Schritt eine Art persönliches Leitbild zu erarbeiten – ein Grundgerüst für die Interpretation und Einordnung der eigenen Wahrnehmungen, das es ermöglicht, auch in akuten Situationen unmittelbar zu stimmigen Reaktionen zu gelangen.

Im Organisationsalltag spielt die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung unseres Erachtens eine noch zu wenig beachtete Rolle. Mitarbeiter werden – zumindest in den Organisationen selbst – nicht ausreichend befähigt und unterstützt, Spannungen zu erkennen und konstruktiv – zum Beispiel in Form von Problemstellungen, Ideen oder Fragestellungen – in ihre Beziehungen, Teams und Organisationen einzubringen.

Ein zentraler Baustein sicherer, vertrauensvoller – in unseren Augen gesunder – Organisationskulturen ist die Fähigkeit der Menschen, die inneren Spannungen zu erkennen und auszusprechen.

New Work needs Inner Work lautet der Titel des Buches von Joana Breidenbach und Bettina Rollow, mit dem die Autorinnen entscheidend dazu beigetragen haben, das Bewusstsein für die enorme Bedeutung der persönlichen Entwicklungsarbeit im Kontext von Transformation und Wandel in Organisationen zu vergrößern. Ohne „Inner Work“ – ohne die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und die Bereitschaft zu persönlicher Entwicklung – sind die besten agilen Methoden, die flexibelsten Strukturen und die ehrgeizigsten Transformationsbemühungen nur schwer realisierbar.

Uns mit uns selbst auseinanderzusetzen dient nicht nur uns selbst, sondern unterstützt uns auch dabei, konstruktiver und nachhaltiger miteinander umzugehen. Nur gemeinsam können wir all die Herausforderungen meistern, die diese schnell sich verändernde Welt an uns und unsere Organisationen stellt.
Die Fähigkeit zur inneren Beobachtung ist nur einer von vielen Bausteinen, die benötigt werden, um lebendige, veränderungsfähige Organisationen zu bauen – aber ein essentieller.

“Not everything that is faced can be changed, but nothing can be changed until it is faced.”
James Baldwin

Quellen:

  • Palmer, Helen, „Das Enneagramm. Sich selbst und andere verstehen lernen.“, MensSana, Januar 2012
  • Hasselmann, Varda, Schmolke, Frank, „Die 7 Archetypen der Angst. Die Urängste der Menschen erkennen, verstehen und behandeln.“, Goldmann Verlag 2010
  • Harris, Thomas A., „Ich bin o.k. Du bist o.k. Wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Einstellung zu anderen verändern können – Eine Einführung in die Transaktionsanalyse“, Rowohlt 2011
  • Klein, Sebastian, Hughes, Ben, „Der Loop Approach. Wie Du Deine Organisation von innen heraus transformierst“, Campus Verlag, 2019
  • Laloux, Frederic, „Reinventing Organizations“, Verlag Franz Vahlen 2017