Für gute, zukunftsfähige Beziehungen brauchen wir Konfliktkompetenz. Denn eins ist klar: vermeiden können wir Konflikte sowieso nicht. Für unsere Entwicklung hilft es uns viel mehr, wenn wir unsere Einstellung dazu und unseren Umgang damit ändern. Das ist nicht leicht. Aber man kann mit kleinen Schritten anfangen.
Der Konflikt hat ein Imageproblem. Dabei ist häufig nicht er das Problem, sondern die große Herausforderung, konstruktiv mit ihm umzugehen. Motivieren könnte uns dabei ein Perspektivwechsel. Denn der Konflikt kann eine echte Chance für Entwicklung und, so paradox das erstmal klingen mag, für mehr Verbundenheit sein – wenn wir ihn nicht vermeiden oder eskalieren, sondern für uns und unsere Beziehungen nutzen.
Im Privaten wie im Beruflichen, für Paare wie für Teams und ganze Organisationen gilt: zwischenmenschliche Beziehungen sind lebendig, sie entwickeln sich permanent weiter und durchlaufen dabei verschiedene Phasen. Konfliktphasen sind wichtige und natürliche Entwicklungsstufen. Sie sind oftmals nicht angenehm und können anstrengend oder sogar schmerzhaft sein, aber sie sind völlig normal.
„Konflikte sind im Grunde produktiv. Sie entstehen aus dem ständigen Innovationsbedarf. Konflikte aktivieren uns, geben uns Hinweise darauf, wo wir Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung finden, und liefern uns die nötige Energie für entsprechende Initiativen. Ohne Konflikte gibt es keinen Fortschritt.“
– Prof. Dr. Alexander Redlich
Der Auslöser von Konflikten ist häufig eine Art Mangel. In der Regel entsteht dieser, wenn Bedürfnisse nicht gestillt werden: wenn wir uns zum Beispiel nicht gesehen, geliebt, frei oder sicher fühlen.
Eine interessante Perspektive zur nachhaltigen Lösung von Konflikten bietet ein Kommunikations- und Konfliktlösungsansatz, der von Marshall B. Rosenberg entwickelt wurde und unter dem Begriff „Gewaltfreie Kommunikation“ weltweite Bekanntheit erlangt hat. Dieser Ansatz bleibt nicht auf der Oberfläche der scheinbaren Konfliktinhalte, sondern setzt tiefer, auf der meist für alle Seiten verborgenen Bedürfnisebene an. Eine Grundannahme der GfK ist, dass Konflikte nie auf der Bedürfnisebene entstehen. Warum? Weil wir im Prinzip alle (die gleichen) Grundbedürfnisse haben: das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Entspannung, nach Verbundenheit und nach Selbstbestimmung (Quelle: GfK-Navigator für Bedürfnisse). Die meisten unserer vielgestaltigen Bedürfnisse lassen sich aus diesen vier Grundtypen ableiten.
Um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, wenden wir allerdings individuelle „Strategien“ an. Dabei handelt es sich selten um einen strategisch-geplanten, also bewussten Akt, sondern häufiger um unreflektiertes, gewohnheitsmäßiges Handeln. Aber gerade WEIL es oftmals routinierte Abläufe sind, die von unseren verborgenen Denk- und Handlungsmustern bestimmt werden, lassen sie sich – ohne Bewusstsein und Reflektion – schwer durchbrechen.
Unsere Bedürfnisse stehen nie im Konflikt miteinander. Es sind vielmehr die Strategien, die wir anwenden, um sie zu befriedigen.
Für die Lösung von Konflikten lohnt es sich also, die dahinter liegenden Bedürfnisse zu erforschen und besser zu verstehen. Um Bedürfnisse zu befriedigen, gibt es nämlich in der Regel immer mehr als nur eine Strategie.
Die große Herausforderung liegt darin, dass wir häufig nicht nur die Bedürfnisse der anderen nicht erkennen, sondern auch unsere eigenen Bedürfnisse nicht sehen, nicht benennen und vermitteln können. Das macht uns in der Lösungsfindung viel unflexibler als wir es eigentlich sein müssten.
Der erste Schritt zur konstruktiven Lösung: den eigenen Bedürfnisse auf die Spur kommen.
Ein erster Schritt auf dem Weg zu einem konstruktiveren Umgang mit Konflikten könnte es sein, ganz gezielt zu üben, sich der eigenen Bedürfnisse bewusst zu werden. Hinter der vermeintlichen Trägheit steckt vielleicht ein Bedürfnis nach Autonomie, hinter dem Blockieren das Bedürfnis nach Entspannung, hinter dem Ordnungswahn das Bedürfnis nach Sicherheit. Alle diese Grundbedürfnisse haben wiederum viele Ausprägungen und Facetten und es lohnt sich, Worte dafür zu finden, um noch präziser beschreiben zu können, was wir brauchen oder wonach wir uns sehnen.
Einen Zugang zu den eigenen Bedürfnissen zu entwickeln und dann auch noch Worte dafür zu finden, ist kein einfacher Prozess, es ist vielleicht sogar eine Lebensaufgabe. Aber eine lohnenswerte. Warum? Auf der Bedürfnisebene fällt es uns nicht nur leichter, uns selbst zu verstehen, sondern auch die anderen. Denn wir kennen die Bedürfnisse in der Regel – wir haben sie ja auch!
Wenn es uns gelingt, verbindende Strategien zu entwickeln, die auf alle beteiligten Bedürfnisse eingehen, können wir Konflikte nachhaltig lösen.
Wenn es uns gelingt, unsere eigenen Bedürfnisse zu verstehen und Worte dafür zu finden, die helfen, diese zu vermitteln, ist die Basis für eine konstruktive Konfliktkultur und verbindende Strategien geschaffen. Konflikte nachhaltig lösen bedeutet, dass keiner in einen dauerhaften Mangelzustand gerät. Nachhaltig bedeutet auch, dass es beiden Seiten gelingt, in einer guten Verbindung zu bleiben – mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen ebenso wie mit denen der anderen.
Vermeiden oder eskalieren wir Konflikte immer wieder, ohne die Ursachen zu erforschen und neue Lösungen auszuprobieren, bleiben wir buchstäblich stecken und kommen nicht weiter. Entwickeln wir die eigene Konfliktkompetenz hingegen, vergrößern wir das Entwicklungspotenzial, das in uns und unseren Beziehungen steckt – in der Beziehung zu uns selbst und in der Beziehung zu anderen. Wir haben die Möglichkeit, neue Perspektiven einzunehmen und Lösungswege zu finden, die wir zuvor nicht erkennen konnten.
Es lohnt sich also, sich Konflikte genauer anzusehen und sie als wertvolle „Entwicklungshelfer“ willkommen zu heißen.